Übersetzt von Jan Schönherr.
Dieses Buch habe ich in einer Leserunde der Lesejury vorablesen dürfen und mit anderen Vorableser*innen darüber diskutiert.
Es ist ein ungewöhnliches Werk.
Worum es geht und warum es ungewöhnlich ist
Die Kurzbeschreibung vom Verlag trifft es gut:
Dieser Roman wagt einen ungewöhnlichen Kunstgriff: Er erzählt seine Geschichte rückwärts, von ihrem vorläufigen Ende zurück zu ihrem Beginn, vom Shanghai des Jahres 2040 zurückgespult ins Jahr 2014. Im Zentrum steht die Familie Yang: der Geschäftsmann Leo, seine Frau, die enigmatische Eko, und die drei Töchter Yumi, Yoko und Kiko.
Schlaglichtartig folgen wir ihnen durch die Jahrzehnte, durch Glücksmomente und Krisen, dorthin, wo alles begann, zurück zu Leos und Ekos Hochzeitstag – in dem der Keim dessen, was noch kommen soll, bereits angelegt zu sein scheint.
Eine kluge Betrachtung von Ehe und Familienbanden, von Verlust und Vergänglichkeit – und ein außergewöhnlicher Debütroman.
Meine Eindrücke
Der Erzählstil – oder besser die Erzählstile – der Autorin hatten mich sofort in das Werk hineingezogen. Mehrere Erzählstile gibt es für verschiedene Personen und Perspektiven. Manche bekommen direkt eine Stimme in der Ich-Perspektive, zu anderen wird in der dritten Person erzählt.
Ich wusste von vornherein, dass ich keine weiteren Entwicklungen der Geschichte erfahren würde, dafür aber, wie es dazu gekommen ist. So etwas hatte ich bis jetzt noch nicht gelesen. Es machte mich neugierig. Das wird letzten Endes auch dargestellt und ich kann mir nach der Lektüre sogar denken, wie es mit den Figuren wahrscheinlich weitergehen würde.
Trotzdem fühlte sich dieser Roman für mich nicht wie ein Gesamtwerk an. Auch wenn die Familie Yang mit Eko, Leo und den drei Töchtern den roten Faden bildet, gibt es einige Erzählstränge von anderen Personen, die mir wie abgehackt erscheinen: lose Enden, die ich noch gern weiterverfolgt hätte.
Diese Nebenfiguren sollen die Geschichte unterstützen, weil sie die Familie durch andere Augen sehen lassen. Aber ich finde das nicht immer sehr gelungen. Einerseits habe ich mich bei manchen gefragt: Warum gerade diese Person? Andererseits werden Personen eingeführt und dann leider nicht weiterverfolgt. So hätten sie meiner Meinung nach ganz weggelassen werden können.
Auch kann ich nicht nachvollziehen, warum die Handlung im Jahr 2040, also von heute aus in naher Zukunft spielt. Das Werk hat nichts wirklich Futuristisches an sich. So hätte man ruhig 2025 starten und sich von dort aus in die Vergangenheit zurückbewegen können.
In der Leserunde zu diesem Buch haben sich außerdem mehrere Leser*innen gefragt, wieso überhaupt unbedingt rückwärts erzählt werden muss. Vielleicht kann man so besser darstellen, welche Diskrepanz zwischen dem, woran sich Personen erinnern, und der echten Vergangenheit bestehen kann.
Ich glaube, wenn das Ganze besser durchdacht worden wäre und es diese störenden „losen Enden“ nicht gäbe, wäre der Sinn des Rückwärtserzählens nicht angezweifelt worden.
Außerdem sind mir manche Darstellungen zu klischeehaft, insbesondere wie die Frauenfiguren geschildert werden. Es gibt da nur eine sympathische, und zwar das Kindermädchen. Aber es gibt keine wirklich starke Frauenfigur. Allerdings muss ich eingestehen, dass es auch keine wirklich starke oder besonders sympathische Männerfigur gibt.
Letzteres finde ich nicht so schlimm, solange die Protagonist*innen interessant sind, und das sind sie schon irgendwie.
Mein Fazit
Ich habe den Eindruck, dass diesem Roman eine tolle Idee zugrunde liegt, die leider nicht richtig zu Ende gedacht wurde. Das Werk ist nicht „rund“. Einige Personen sind zu sorgfältig eingeführt worden, um sie dann nicht noch einmal in Erscheinung treten zu lassen. Insgesamt habe ich mich jedoch auf keiner Seite gelangweilt. Aber am Ende habe ich nicht das zufriedene Gefühl, das ich nach dem Lesen eines Romans gerne hätte.
Meine Bewertung: 3 von 5 Sternen.
Details
Autor: | Juli Min |
Titel: | Shanghai Story |
übersetzt von: | Jan Schönherr |
Genre: | Gegenwartsliteratur |
Verlag: | Eichborn |
Erscheinungsjahr: | 2025 |
Seitenanzahl: | 288 |
ISBN: | 9783847901877 |
Das Buchcover im Titelbild gehört dem Verlag Eichborn (zu Bastei-Lübbe).
Was hat es mit den Leserunden bei der Lesejury auf sich?
Das habe ich hier detailliert beschrieben: